Wilhelm von Humboldt, „Der Königsberger und der Litauische Schulplan“ (1809)

Kurzbeschreibung

Wilhelm von Humboldt (1767–1835) war ein Sprachwissenschaftler, Philosoph und Regierungsbeamter, den die Theorie und Praxis der Bildung faszinierte. Sein bildungsreformerischer Ansatz stellte einen wichtigen Meilenstein in der Wissensgeschichte dar. Humboldts Bildungsreform holte das Lernen aus dem Einflussbereich der lokalen Pfarrer und Pädagogen und unterstellte es staatlichen Behörden. Diese Behörden verlangten von der Schule, zuverlässige Bürger hervorzubringen, die zu leistungsfähigem Staatsdienst und lebenslangem Lernen in der Lage waren. Dahinter stand die Auffassung, dass die Ehre und der Nutzen, die mit Staatsdienst und Bildung verbunden wurden, zum Wohl der Gesellschaft beitragen würden. Darüber hinaus verlieh Humboldts systematische Unterteilung des Lernens in drei Stufen – Elementar-, Schul- und Universitätsunterricht – dem Bildungswesen Kohärenz, indem die Schüler durch kontinuierliche kognitive Entwicklungsschritte geführt wurden. Die Stärke und der Erfolg des Humboldtschen Ansatzes, der in diesem Textausschnitt von 1809 deutlich wird, veränderte nicht nur das deutsche Bildungswesen nachhaltig, sondern auch das zahlreicher anderer Länder, einschließlich der Vereinigten Staaten.

Quelle

Alle Schulen aber, deren sich nicht ein einzelner Stand, sondern die ganze Nation, oder der Staat für diese annimmt, müssen nur allgemeine Menschenbildung bezwecken. — Was das Bedürfniss des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muss abgesondert, und nach vollendetem allgemeinen Unterricht erworben werden. Wird beides vermischt, so wird die Bildung unrein, und man erhält weder vollständige Menschen, noch vollständige Bürger einzelner Klassen.

Denn beide Bildungen — die allgemeine und die specielle — werden durch verschiedene Grundsätze geleitet. Durch die allgemeine sollen die Kräfte, d. h. der Mensch selbst gestärkt, geläutert und geregelt werden; durch die specielle soll er nur Fertigkeiten zur Anwendung erhalten. Für jene ist also jede Kenntniss, jede Fertigkeit, die nicht durch vollständige Einsicht der streng aufgezählten Gründe, oder durch Erhebung zu einer allgemeingültigen Anschauung (wie die mathematische und ästhetische) die Denk- und Einbildungskraft, und durch beide das Gemüth erhöht, todt und unfruchtbar. Für diese muss man sich sehr oft auf in ihren Gründen unverstandene Resultate beschränken, weil die Fertigkeit da seyn muss, und Zeit oder Talent zur Einsicht fehlt. So bei unwissenschaftlichen Chirurgen, vielen Fabrikanten u. s. f. Ein Hauptzweck der allgemeinen Bildung ist, so vorzubereiten, dass nur für wenige Gewerbe noch unverstandene, und also nie auf den Menschen zurück wirkende Fertigkeit übrigbleibe.

Die Organisation der Schulen bekümmert sich daher um keine Kaste, kein einzelnes Gewerbe, allein auch nicht um die gelehrte — ein Fehler der vorigen Zeit, wo dem Sprachunterricht der übrige geopfert, und auch dieser — mehr der Qualität, als Quantität nach — zum äussern Bedarf (in Erlangung der Fertigkeit des Exponirens und Schreibens) nicht zur wahren Bildung (in Kenntniss der Sprache und des Alterthums) getrieben wurde.

Der allgemeine Schulunterricht geht auf den Menschen überhaupt, und zwar

als gymnastischer
ästhetischer
didaktischer und in dieser letzteren Hinsicht wieder
als mathematischer
philosophischer, der in dem Schulunterricht
nur durch die Form der Sprache rein,
sonst immer historisch-philosophisch ist,
und historischer
auf die Hauptfunktionen seines Wesens.

Dieser gesammte Unterricht kennt daher auch nur Ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner, und der am feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüth ursprünglich gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chimärisch, und verschroben werden soll.

Eher könnte es scheinen, dass bei der allmählig fortschreitenden Bildung die Methode insofern verschieden seyn müsste, als sich das Ziel derselben durch Unterricht als weit oder nahe gesteckt voraussehen lässt. Allein auch hier scheint mir der Unterschied nicht bedeutend. Bleibt man fest dabei stehen, Zahl und Beschaffenheit der Unterrichtsgegenstände nach der Möglichkeit der allgemeinen Bildung des Gemüths in jeder Epoche zu bestimmen, und jeden Gegenstand immer so zu behandeln, wie er am meisten und besten auf das Gemüth zurückwirkt, so muss eine ziemliche Gleichheit herauskommen. Auch Griechisch gelernt zu haben könnte auf diese Weise dem Tischler ebenso wenig unnütz seyn, als Tische zu machen dem Gelehrten. Indess lässt kleine Verschiedenheiten allerdings die Wahl des Stoffes, da jede Form nur an einem Stoffe geübt werden kann, zu und auf diese wird in der Folge auch Rücksicht genommen werden. Auch können die grellen Contraste immer vermieden werden, und es braucht nie dahin zu kommen, dass ein Handwerker Griechisch, kaum lateinisch gelernt habe.

Die Gränze des Unterrichts, da wo derselbe nicht seinen Endpunkt, die Universität, als die Emancipation vom eigentlichen Lehren (da der Universitäts Lehrer nur von fern das eigene Lernen leitet) erreicht, kann nun durch nichts andres bestimmt werden, als durch die zu allem Unterricht nöthigen Bedingungen Kraft und Zeit. Soweit der Schüler das eine hergiebt, und zum andern Mittel hat, so weit kann der Lehrer ihn führen, und soweit muss der Staat dafür sorgen, dass er gebracht werden könne.

Die Pflicht der Schulbehörde bei der Organisation des Schulwesens ist nun, zu verhüten, dass der Schüler einen Weg mache der ihm unnütz seyn würde, wenn er ihn nun nicht auch noch weiter verfolgte. Leider aber ist dies fast immer jetzt bei unsern Schulen der Fall, wenn einer in tertia, oder secunda stecken bleibt. Es wird aber nie Statt haben, wenn man (wie auf den sehr guten Schulen schon jetzt geschieht) beim Unterricht nicht auf das Bedürfniss des Lebens, sondern rein auf ihn selbst, auf die Kenntniss, als Kenntniss, auf die Bildung des Gemüths und im Hintergrunde auf die Wissenschaft sieht. Denn im Gemüth und in der Wissenschaft (die nur sein von allen Seiten vollständig gedachtes Object ist) steht jeder einzelne Punkt mit allen vorigen und künftigen in Contact, ist kein Anfang und kein Ende, ist alles Mittel und Zweck zugleich, und also jeder Schritt weiter Gewinn, auch wenn unmittelbar dahinter eherne Mauern gezogen würden.

Sind diese Grundsätze richtig und kommt man nun von ihnen auf die verschiedenen Gattungen der Schulen (Specialschulen immer ganz abgesondert), so ist wieder das erste und wichtigste Princip

die Einheit und Continuität des Unterrichts in seinen natürlichen Stadien,
da jede Theilung der Anstalt da, wo der Unterricht keine natürliche Theilung kennt, seine Folge zerreisst, Verschiedenheit in der Behandlung und dem Geiste derselben hervorbringt, und selbst die Lehrer, die nur bis zu einem willkührlich angenommenen Punkt führen sollen, ungewiss und verwirrt macht.

Als natürliche Stadien aber kann ich nur anerkennen:

den Elementarunterricht
den Schulunterricht
den Universitätsunterricht.

Der Elementarunterricht umfasst bloss die Bezeichnung der Ideen nach allen Arten, und ihre erste und ursprüngliche Classification, kann aber, ohne Nachtheil, in dem Stoff zu dieser Form in Natur- und Erdkenntniss mehr oder minder Gegenstände mit aufnehmen. Er macht es erst möglich, eigentlich Dinge zu lernen, und einem Lehrer zu folgen.

Der Schulunterricht führt den Schüler nun in Mathematik, Sprach- und Geschichtskenntniss bis zu dem Punkte wo es unnütz seyn würde, ihn noch ferner an einen Lehrer und eigentlichen Unterricht zu binden, er macht ihn nach und nach vom Lehrer frei, bringt ihm aber alles bei, was ein Lehrer beibringen kann.

Der Universität ist vorbehalten, was nur der Mensch durch und in sich selbst finden kann, die Einsicht in die reine Wissenschaft. Zu diesem Selbst Actus im eigentlichsten Verstand ist nothwendig Freiheit, und hülfereich Einsamkeit, und aus diesen beiden Punkten fliesst zugleich die ganze äussere Organisation der Universitäten. Das Kollegienhören ist nur Nebensache, das Wesentliche, dass man in enger Gemeinschaft mit Gleichgestimmten und Gleichaltrigen, und dem Bewusstseyn, dass es am gleichen Ort eine Zahl schon vollendet Gebildeter gebe, die sich nur der Erhöhung und Verbreitung der Wissenschaft widmen, eine Reihe von Jahren sich und der Wissenschaft lebe.

Uebersieht man diese Laufbahn von den ersten Elementen bis zum Abgang von der Universität, so findet man, dass, von der intellectuellen Seite betrachtet, der höchste Grundsatz der Schulbehörde (den man aber selten aussprechen muss) der ist: die tiefste und reinste Ansicht der Wissenschaft an sich hervorzubringen, indem man die ganze Nation möglichst, mit Beibehaltung aller individuellen Verschiedenheiten, auf den Weg bringt, der, weiter verfolgt, zu ihr führt, und zu dem Punkte, wo sie und ihre Resultate nach Verschiedenheit der Talente und Lagen, verschieden geahndet, begriffen, angeschaut, und geübt werden können, und also den Einzelnen durch die Begeisterung, die durch reine Gesammtstimmung geweckt wird, zu Hülfe kommt.

Nicht überall aber kann der eigentliche Schulunterricht in Einer Anstalt vollendet dargestellt werden. Da indess diese Hindernisse nur zufällig sind, so ist auch, nach meiner Einsicht, jeder andere Unterschied, ausser dem oben angegebenen, nur ein zufälliger und nur als solcher zu behandeln.

Hieraus fliesst nun für die Schulbehörde der praktische Grundsatz:

an Orten, wo es gelehrte Schulen (d. h. solche, welche den Schulunterricht bis zu seinem Endpunkte führen) geben kann, müssen keine abgesonderte Bürger – sondern nur Elementarschulen seyn;
an Orten hingegen, wo dies nicht möglich ist, kann und muss es Bürgerschulen geben, welche indess dann nur die unteren Klassen der von ihnen abgesonderten gelehrten sind.

Wie es aber Pflicht jedes praktischen Verfahrens ist, dafür zu sorgen, dass die Einheit des Princips nicht die wohlthätige Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit verschlinge, so können in dem ersten Falle Elementarschulen eine solche Ausdehnung erhalten, dass sie den Zögling gewiss weiter bringen als die Bürgerschulen von Einer Klasse des Plans. Nur müssen sie nie alsdenn ins Gebiet der gelehrten Schulen mit Unterricht im Lateinischen eingreifen. Sonst zerreissen sie die Einheit dieses Unterrichts. Auch in Geschichte müssen sie bei Gränzpunkten stehen bleiben. In der Mathematik aber können nur in solchem Fall die Talente des Lehrers und Schülers und die Zeit die Gränzen setzen. Es ist ein abgesondertes Fach, in dem der Begriff der Wissenschaft leichter errungen werden, und daher allgemeiner gewährt werden kann.

Aus gleichen Accommodationsmaximen muss im zweiten Fall die sogenannte Bürgerschule sich bequemen in Mathematik weiter zu gehen, als sonst die unteren Klassen der gelehrten thun würden, auch mehr bloss historische Kenntnisse aufzunehmen.

Trete ich nunmehr dem vorliegenden Plane näher, so finde ich vorzüglich folgende Hauptwidersprüche mit den hier entwickelten Grundsätzen:

1. die aufgestellte Maxime, dass es nur zu dulden sey, Bürger- und gelehrte Schule in Einer Anstalt zu verbinden, an sich aber das Gegentheil wünschenswerth. Sehr bedenklich ist schon in dieser Hinsicht der Grundsatz, dass für jene die Stadt, für diese die Provinz sorgen soll, woraus sogar, nach dem Plan, zwiefache Aufsichtsbehörde entsteht. Hierbei scheint es mir durchaus unmöglich, eine gute gelehrte Schule zu haben. Denn wie genau auch die geistliche Deputation die Städte angehen möge, so kann sie doch für die wahre Güte der Bürgerschulen, und vorzüglich für ihre Angemessenheit zu Vorbereitungsschulen zu den gelehrten nicht mehr einstehen. Mir schiene daher besser

a. entweder die Königlichen fonds zwar nur den Städten, wo gelehrte Schulen sind, zu geben, aber da mit den städtischen zusammenzuwerfen und zu machen, was sich nun damit machen lässt; oder
b. die gelehrten Schulen ganz von ihrer untersten Klasse an auf Königliche Kosten zu übernehmen, und die Städte, die dadurch erleichtert werden, dagegen zu nöthigen, verhältnissmässig gleichviel, als andre Städte auf Elementar und Bürgerschulen zugleich wenden, bloss für ihre Elementarschulen zu geben. Ungleichheiten sind das Wesen der Welt, und dass etwas besser sey, als anderes, ist leicht zu dulden;

2. kommt mir die Klasseneintheilung bei weitem zu dürftig vor. Eine Bürgerschule mit Einer Klasse kann schwerlich mehr, als jede Elementarschule leisten. Für eine Bürgerschule, die Vorbereitungsschule zugleich seyn soll, sind noch 2 Klassen zu wenig. Trotz aller Anstrengungen könnten die gelehrten Schulen nichts leisten, wenn ihnen Schüler aus fremden Schulen von 1, oder 2 Klassen zukämen, und sie selbst nur nothdürftig 3 hätten. Man würde bald aufs neue theilen, combiniren u. s. f. müssen.

Schon bei einer Elementarschule muss selbst Ein Lehrer, wenn er ordentlich unterrichten will, wenigstens manch­mal die Stunden theilen. Sehr vollständige und gute Elementarschulen müssten also 2 Klassen haben, obgleich die Regel eine seyn könnte.

Sogenannte Bürgerschulen (besser Stadtschulen) müssen unnachlasslich 2 Classen, oder, wo möglich, drei haben, und doch sehr streng nie Schüler, die im Elementarunterricht nicht ganz fest wären, aufnehmen. Sonst muss eine 3te oder 4te Classe hinzukommen.

Gelehrte (besser hier Provincialschulen, die also die Bürgerschule des Plans mit sich vereinigen) können sich mit 5 Classen begnügen.

3. scheint noch im Plan eine gewisse Tendenz zu liegen, in den Bürgerschulen sich selbst von der Möglichkeit künftiger Wissenschaft zu entfernen, und aufs naheliegende Leben zu denken. Warum soll z.B. Mathematik nach Wirth und nicht nach Euclides, Lorenz oder einem andern strengen Mathematiker gelehrt werden? Mathematischer Strenge ist jeder an sich dazu geeignete Kopf, und die meisten sind es, auch ohne vielseitige Bildung fähig, und will man in Ermangelung von Specialschulen aus Noth mehr Anwendungen in den allgemeinen Unterricht mischen, so kann man es gegen das Ende besonders thun. Nur das Reine lasse man rein. Selbst bei den Zahlverhältnissen liebe ich nicht zu häufige Anwendungen auf Carolinen, Ducaten u. s. f. Je tiefer der Mensch, der nicht höher gebildet werden kann, leider ins Leben eintauchen muss, desto sorgfältiger halte man ihn bei dem wenigen Formellen, was er rein zu fassen im Stande ist. Gerade dies hat auf Moralität durch die Strenge des Pflichtbegriffs, der, wo man gar keine andern reinen Begriffe kennt, nur als Zwang erscheint, und auf Religion durch das Abziehen vom sinnlichen Stoff sehr wesentlichen Einfluss.

Dies ist ungefähr, was es mir gut schien, im Ganzen voraus zu erinnern, da es im Zusammenhang überlegt seyn will und sich für eine Conferenz mit der Deputation nicht passt. Uebrigens, diese bestrittenen Punkte abgerechnet, in denen auch die Section, wenn ich auch vielleicht nicht über ihre Meynung hinausginge, irren kann, ist ein treflicher Geist in dem ganzen Plan; sehr viel Einzelnes stimmt ganz mit dem System der Section überein, andre Kleinigkeiten, wie dass die Lehrer noch viel zu sehr mit Lectionen überhäuft bleiben, lassen sich mündlich besprechen.

Gumbinnen, den 27. September 1809.

Humboldt.

Quelle: Wilhelm von Humboldt, „Der Königsberger und der Litauische Schulplan“, in Wilhelm von Humboldt, Werke in Fünf Bänden, herausgegeben von Andreas Flitner und Klaus Giel. Bd. 4. Schriften zur Politik und zum Bildungswesen. Stuttgart: Cotta, 1964, S. 188–95. Wiedergabe auf dieser Website mit freundlicher Genehmigung von Klett-Cotta Verlag (www.klett-cotta.de)

Wilhelm von Humboldt, „Der Königsberger und der Litauische Schulplan“ (1809), veröffentlicht in: German History Intersections, <https://germanhistory-intersections.org/de/wissen-und-bildung/ghis:document-7> [05.12.2024].